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Warum eigentlich nicht Grammatik in Alltagssprache?

„Alltagssprache vor Fachsprache“ heisst ein bedenkenswerter Grundsatz von Martin Wagenschein auf dem Weg zum Verstehen. Wieso soll er aber nur fĂŒr FĂ€cher wie Mathematik und Physik gelten, die neben eigenen Fachbegriffen oft vorschnell noch die mathematische Formelsprache bringen und damit die ZusammenhĂ€nge fĂŒr AnfĂ€nger zusĂ€tzlich verschleiern statt aufdecken? Ist unser Grammatikunterricht nicht im selben Spittel krank?

Ich gestehe: Bisher habe ich in meinem Grammatikunterricht immer auf den sofortigen Gebrauch der Fachbegriffe gesetzt, selbst im LehrstĂŒck „Universalgrammatik mit Chomsky“. Meine drei Ausreden?  Erstens: Jede traditionelle Grammatik verfĂ€hrt so, also auch unsere Kurshefte „Deutsche Sprache. Deutsche Grammatik“ aus dem compendio-Verlag. Zweitens: Meine Studierenden kommen bereits mit Vorkenntnissen in Grammatik daher und benutzen auch Fachbegriffe wie Numerus, Pronomen oder Attribut. Drittens: Dieselben – oder nahezu dieselben – Begriffe verwenden auch die Kurshefte der anderen Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch),  ja unser Heft bietet sogar im Anhang eine Synopse der Grammatikbegriffe, wo wir sehen, dass etwa das Genus auf Deutsch „das Geschlecht“, auf Englisch „gender“, auf Französisch „le genre“, auf Italienisch „il genere“ und auf Spanisch „el gĂ©nero“ heisst. Das scheint doch ein wohlmeinender didaktischer Gestus: Schau, die Einzelsprachen sind alle miteinander verwandt, wenn du die Grammatik deiner Muttersprache begreifst, hast du auch bei den Fremdsprachen weniger MĂŒhe! Kann man noch mehr Hilfe bieten?

Die ErnĂŒchterung kommt jeweils schnell bei den ersten Übungen, die wir durchfĂŒhren. Da werden Pronomen mit Artikeln verwechselt, das grammatische Geschlecht mit dem natĂŒrlichen, Adjektiv, Adverb und Adverbiale nicht genau auseinandergehalten, PrĂ€positionen und Konjunktionen durcheinandergebracht, ganz zu schweigen von den Fragen, die auf die Lernökonomie zielen: Muss ich alle Pronomenarten kennen oder genĂŒgt es, wenn ich „Pronomen“ hinschreibe?  Muss ich konzessive und konsekutive NebensĂ€tze unterscheiden können oder genĂŒgt es, wenn ich „Nebensatz“ weiss? Oder dann – wie gestern im Unterricht – das verzweifelt-fröhliche RĂ€tselraten: Auf meine Frage, wovon der Kasus eines Relativpronomens abhĂ€ngig sei, wurden mir alle Wörter im Satz aus der Klasse zugerufen – nur das richtige (die PrĂ€position) nicht.

Zwei Reaktionen sind möglich nach solchen ErnĂŒchterungserlebnissen. Die eine ist das beliebte SchĂŒler-Bashing, als Psycho-Hygiene von LehrkrĂ€ften gerne im geschĂŒtzten Raum hinter der LehrerzimmertĂŒre betrieben in den Varianten: Die SchĂŒlerInnen sind dumm oder faul oder beides. Die andere Reaktion ist jenes Abstandnehmen, das sich Wagenschein geleistet hat: Ist vielleicht unser Unterricht ĂŒberfordernd, zielt er gar nicht aufs Verstehen des PhĂ€nomens, geht er nicht viel zu schnell vor? Und eben: Operiert er nicht vorschnell mit den Fachtermini oder gar mit einer Formelsprache, statt den SchĂŒlerInnen die Chance zu lassen, sich dem PhĂ€nomen beschreibend zu nĂ€hern und ihre Fragen in ihrer (Alltags-)Sprache zu formulieren? Warum dĂŒrfen die Lernenden nicht – wie die Grossen in Philosophie und Wissenschaft –  auch die grossen, nĂ€mlich grundlegenden Fragen stellen, und die sogar immer wieder, wenn sie in ihrem Verstehensprozess nicht weiterkommen? BezĂŒglich der Grammatik also nicht, was der Unterschied zwischen der starken und der schwachen Deklination im Deutschen sei oder wie man das Partizip als Adjektiv brauchen kann, sondern: Was ist Sprache oder – so die Sogfrage im erwĂ€hnten LehrstĂŒck: Wie kommen wir zur Sprache?

Zweierlei Hindernisse fĂŒrs Verstehen scheint die traditionelle Grammatik zu bieten: Sie setzt am falschen Ort an und sie vernebelt den prinzipiellen Prozesscharakter von Sprache, also den kreativ-genetischen oder, wie es Chomsky sagt, den generativen Aspekt. Die Grammatik in unserem Schulbuch beginnt nicht mit dem ganzen PhĂ€nomen, der Sprache, oder wenigstens einer begrĂŒndbaren EntitĂ€t, dem Satz, sondern mit dem Einzelnen, nĂ€mlich mit den „Deklinierbaren Wortarten“ und fasst die Wörter gleich einmal „nach formalen, funktionalen und inhaltlichen Kriterien in zehn Wortarten“ (Deutsche Grammatik 1/6, S. 65). Damit ist die Verwirrung bereits komplett, denn einem SchĂŒler muss es so erscheinen, als sei das Wichtigste in der Sprache das Wort („Im Anfang war das Wort!/Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?“ frotzelte Goethe bekanntlich in seinem „Faust I“). Und wie die drei Kriterien (Form, Funktion, Inhalt) bei der Einteilung der Wörter in die Wortarten zusammenspielen, wird schon gar nicht mehr erklĂ€rt. Wenn jemand sich das ĂŒberlegt, könnte er durchaus zum Schluss kommen, dass die Bedeutung, also der Inhalt der Wörter, fĂŒr ihre grammatikalische Einteilung verantwortlich sei. Denn mit Sprache wollen wir doch Inhalte kommunizieren. Dass die Wortarten (und alle andern syntaktischen Begriffe der griechisch-lateinischen Grammatik) Funktionsbegriffe sind, wird stillschweigend vorausgesetzt, aber nirgends entfaltet. Dass etwa im Begriff „Adverb“ (deutsch „beim Wort“) die attribuierende Stellungsfunktion dieser Wortart – nicht aber die Form – ausgedrĂŒckt ist, wĂ€re bereits eine VerstĂ€ndnishilfe, kann aber erst dann zu einem wirklichen Verstehen fĂŒhren, wenn seine Teilfunktion im Gesamten der Satzfunktionen abgeleitet wird – und zwar am jeweils konkreten Beispielssatz. Chomskys Tafelanschrieb (s. Bild unten) bietet gleich zweimal so ein Funktions-Wort in zwei verschiedenen Formen (mit englischer Adverb-Endung und ohne) und in zwei verschiedenen Positionen (vor und nach dem Bezugswort („green“ bzw. „sleep“).

Das mag jetzt ĂŒberkompliziert tönen, weil wir mit dem Funktionsbegriff und den Ableitungen gerade meilenweit von der Alltagssprache weg sind. Also gehen wir einige Schritte zurĂŒck, kehren wir die Methode um, beginnen wir beim Ganzen des PhĂ€nomens statt bei den Einzelteilen, also in der Satzgrammatik beim Satz einer Sprache, und lassen wir die SchĂŒlerInnen in ihren Worten das Wesentliche des Satzes beschreiben. Mein Vorschlag wĂ€re, wiederum die Urszene des LehrstĂŒcks „Universalgrammatik mit Chomsky“ zu nehmen, wo der Meister selbst eben seinen berĂŒhmten Nonsense-Satz auf die Tafel gekritzelt hat, jetzt aber zwei statt nur eine Knobelrunde durchzufĂŒhren.

chomsky-nonsensNach dem fröhlichen RĂ€tselraten, wer denn das sei auf dem Foto, wie alt dieses Bild wohl sei, was der Mann mit seiner Haltung ausdrĂŒcken wolle, was das Gekritzel auf der Tafel bedeuten soll, in welcher Sprache der Tafelanschrieb ist, ob wir das ĂŒbersetzen können, warum die Wörter auf zwei Zeilen stehen, weshalb das erste Wort gross geschrieben ist, aber keinerlei Satzzeichen erkennbar sind (alle Vermutungen, Gedanken, EinfĂ€lle, Erkenntnisse selbstverstĂ€ndlich alltagssprachlich formuliert), und der gemeinsam gewonnenen Erkenntnis, dass es sich beim Kreidegekritzel um einen Satz der englischen Sprache handelt, sollte eine zweite Runde freier Klassenerörterung mit folgenden Fragen angeschlossen werden: Welche Teile in diesem Satz sind wichtiger als die andern, welche sind vielleicht unverzichtbar, damit das Ganze noch ein Satz bleibt und in welchem VerhĂ€ltnis stehen die beiden verbleibenden Teile (ideas, sleep) zueinander?

Idealerweise fĂŒhrt diese zweite RĂ€tselrunde zur Erkenntnis, dass aus dem Zusammenspiel der  beiden verbleibenden wichtigsten Wörter in einem Satz der ganze Satz entspringt bzw. – und jetzt gebrauche ich hier wieder die Fachsprache, um abzukĂŒrzen – , dass die Dialektik zwischen Subjekt und PrĂ€dikat in jedem Satz den Anstoss zur Genese des ganzen Satzes liefert. So dass es nicht nur in der Grammatiklektion geraten erscheint, immer von dieser ersten Satzableitung auszugehen, sondern auch im Alltag, wenn wir in SĂ€tzen sprechen bzw. SĂ€tze hören. Denn eines dĂŒrften nach dieser ersten, alltagssprachlichen AnnĂ€herung  an die Sprache klar sein: So wenig wir aufs Atmen verzichten können (Luft ist eine doppelte Voraussetzung beim Sprechen), so wenig können wir einen Satz Ă€ussern, ohne gleichzeitig seine Grammatik mitzuerzeugen.

In der nÀchsten Lektion probiere ich diesen Zugang mit meiner Klasse aus.

Stephan Schmidlin

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