etztes Jahr war anlässlich des 100. Todestags Gelegenheit, einen Wissenschaftler, Forscher, Künstler und Schriftsteller zu feiern, der in seinem Leben Lehrkunst pur betrieben hat: den französischen Entomologen bzw. Insektenforscher Jean-Henri Fabre (1823-1915), einen Mann, den wir als Forscher an die Seite Darwins stellen müssen. Was ihn als Menschen, Entdecker und Lehrer für eine lehrkunstmässige Vermittlung in der Schule qualifiziert, sei hier kurz - in Kursivsetzung - herausgearbeitet. Wer macht sich daran, zu Fabre ein Lehrstück zu entwickeln?
Der Schweizer Schriftsteller Kurt Guggenheim widmete ihm ein eigenes Buch und charakterisierte Fabres Schaffen und Leben folgendermassen: „Das meiste, was wir von ihm wissen, erfuhren wir durch ihn selbst; man kann aus den Erinnerungen an seine Jugend, seine Studien und an seine Lehramtszeit, die kreuz und quer ganz unchronologisch über die zehn Bände der ,Souvenirs entomologiques' verteilt sind, einen grossen Teil seiner Lebensgeschichte zusammenstellen. Sie ist ziemlich arm an äusseren Vorgängen, und käme es auf diese an, so müsste sie schweigen über die letzten fünfunddreissig Jahre von Fabres Leben. In Wirklichkeit jedoch sind die Bände II bis X, die von 1880 an in Abständen von etwa drei Jahren erschienen sind (der erste Band erschien 1878) der genaue Bericht über das, was er nicht nur in jedem Jahr, sondern zu jeder Jahreszeit, ja oft von Stunde zu Stunde getan hat. Am Abend, bis spät in die Nacht hinein, brachte er die Beobachtungen in seinen Registern à jour, und wenn er über einen Gegenstand alles Material besass, Notizen, die sich nicht nur über Jahre, sondern oft über Jahrzehnte hinzogen, begann er in seiner kleinen, gemessenen, klaren Schrift die erprobten, die feststehenden Ergebnisse seines Forschens niederzuschreiben. Er hat zeitlebens den einfachen Tonfall seiner Kinderlehrbücher beibehalten; er wendet sich an einen Leser ohne Voraussetzungen; einen, der gar nichts weiss, hatte ihn doch die Begegnung mit dem grossen Pasteur gelehrt, dass Nichtwissen und sich zu diesem Nichtwissen bekennen nicht nur die Voraussetzung zum echten Verstehen, sondern recht eigentlich ein Zeugnis der Intelligenz darstellt. Aber Fabre ist der Tonfall des Elementarlehrers, sind seine aus dem Alltag genommenen Bilder und Vergleiche nur ein Vorwand, seinen Leser in die Zange zu nehmen und ihn schrittweise den Weg vom Nichtwissenden zum Wissenden gehen zu lassen, der sein eigener ist. Ausser der Kenntnis über einen Vorgang im Insektenleben lehrt aber Fabre seinen Leser noch etwas anderes: die Geduld nämlich. Sie ist nichts anderes als erfüllte, ausgefüllte Zeit; diese Zeit wird gemessen nach der Tiefe, nach dem Grade der Selbstvergessenheit, doch nicht mehr nach der auf dem Zifferblatt angezeigten Dauer. Fabre liebt über alles die Uhr aus schwarzem Marmor, die ihm die Schülerinnen der freien Kurse in der alten Abtei von Saint-Martial in Avignon aus Dankbarkeit verehrt hatten. Aber wenn ihn des Nachts ihr Ticken bei der Arbeit, während seiner ewigen Wanderungen um das kleine Tischchen störte, dann pflegte er kurzerhand die Zeiger anzuhalten. Da braucht es wirklich nicht mehr viel, um das Symbolische dieser Bewegung zu erkennen.“
Geduldigstes Beobachten und Beschreiben als „Homer der Insekten“
Die Kursivsetzungen sind von uns und zeigen, dass alles Lehrkunstmässige bei Fabre drin ist: Der Mensch und Forscher Fabre, das forschende Lernen, die Voraussetzungslosigkeit, die Alltagssprache, das Ziel des echten Verstehens, die Darstellung des eigenen Lernens, die Entschleunigung. Dazu aber noch eine stupende Meisterung der Sprache – Victor Hugo (ja, der Grosse) nannte Fabre den „Homer der Insekten“, 1912 wurde Fabre für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Der obige Text stammt, wie erwähnt, von Kurt Guggenheim, einem Zürcher Schriftsteller (und Romanisten) aus dem letzten Jahrhundert, der sich Fabre und sein Forschen als Haltung und als Methode zu eigen gemacht hat. Guggenheims Buch (Angaben in Randspalte) „Sandkorn für Sandkorn“ (ein Schiller-Zitat), in dem er „Die Begegnung mit J.-H. Fabre“ (Untertitel) beschreibt und ergo auch lehrkunstmässig, nämlich genetisch, vorgeht, ist auch sein stärkstes.
Fabre scheint ein typischer Forscher des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein, der als Einzelkämpfer unbeirrt seinen Weg verfolgt hat. Weitgehend Autodidakt wie Michael Faraday, hat er abseits vom etablierten Wissenschaftsbetrieb neue Methoden entwickelt: nämlich die Verhaltensforschung avant la lettre, Feldforschung am Leben in seinem „Harmas“ – einem Stück provenzalischer Trockensavanne (Fabre: „So bezeichnet man auf dem Land eine unbestellte, steinige, dem Thymian überlassene Fläche ..), Beobachtungen des Verhaltens der lebendigen Insekten „von Auge“ und genaueste Beschreibung dieses Verhaltens mithilfe der Sprache, nicht die Analyse und Klassifizierung ihrer toten Teile unter dem Mikroskop. Er wollte der Instinktsteuerung des Insektenlebens auf die Spur kommen. Mit diesem Ansatz ist er ein Antipode zu Darwin (mit dem er in Kontakt war und der seine Bedeutung durchaus erkannt hatte), weil er im Insektenreich keine Evolution nachweisen konnte. Aber Fabres Methode der genauen Beobachtung und Beschreibung ist dafür direkt in die Schule übertragbar, er hat übrigens auch seine Kinder an seinen Forschungen beteiligt, ist selbst als Lehrer durch alle Stufen der Schule hinaufgegangen und hat Schulbücher verfasst für die Fachgebiete Chemie, Botanik, Arithmetik, Himmelskunde, Algebra, Trigonometrie, Landwirtschaft.
Das ganze Werk auch auf deutsch: Alles da zur Entwicklung eines Lehrstücks
Am 11. Oktober 2015 war der hundertste Todestag des Forschers Fabre zu feiern und erstmals erscheint sein gesamtes Hauptwerk auf Deutsch (Angaben in Randspalte). Über diese Edition schreibt der Kulturkritiker Andreas Isenschmid und trifft damit den letzten Lehrkunst-Zug, nämlich die Dramaturgie: „Fabre geht mit Insekten so zart, neugierig und liebevoll um wie mit seinen Freunden. Warum bleibt man diesem Fabre lesend so lange treu? Weil er nicht scheinüberlegen fertiges Wissen vermittelt, sondern Wissen in tastender Enträtselung erst sucht. Wir erleben das Drama des Forschers, verdoppelt durch das Drama der Insekten, verdreifacht durch die Kunst eines fabelhaften Erzählers“ (NZZ am Sonntag, 04. Juli 2010).
Und damit ist doch alles zusammen fürs Lehrstück „Ins Reich der Insekten mit Jean-Henri Fabre“, weil in der Tat das Leben von Fabre an Dramatik überreich ist. Als Seitenstück oder Kontrapunkt zu einem Darwin-Lehrstück natürlich. Wer lässt sich begeistern und fängt mit der Entwicklung an?
Stephan Schmidlin
MATERIALIEN
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Einen kleinen Einblick in Fabres Forschungsfeld (heute ist sein Haus und Garten ein Museum) gibt’s hier
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Guggenheim Kurt: Riedland /Sandkorn für Sandkorn, Werke Bd. II, Frauenfeld: Huber 1999
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Fabre, Jean-Henri: Erinnerungen eines Insektenforschers, 10 Bände, Berlin: Matthes und Seitz (dazu als Seitenstück Fabres Pilzbuch, ebenfalls bei Matthes und Seitz)