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Update: LehrstĂŒck-Film "Mit Euklid am Sechsstern das Beweisen verstehen"

idaktische ErlÀuterungen

Mit dem MathematiklehrstĂŒck zum Beweisen wird erstmals ein vollstĂ€ndiges LehrstĂŒck im Unterricht filmisch dokumentiert. LehrstĂŒcke sind Unterrichtseinheiten, die nach den didaktischen GrundsĂ€tzen der Lehrkunst gestaltet sind.

Die Ausgangsfragen der Lehrkunstdidaktik lauten: Wie kann Schulunterricht zu einer Gelegenheit fĂŒr verstĂ€ndnisförderndes Lernen werden, wie wird aus interessanten Themen spannender Unterricht? Mindestens drei Dinge braucht es dazu: Erstens lohnende LerngegenstĂ€nde, zweitens genug Zeit zur Vertiefung und drittens das selbstĂ€ndige forschende Lernen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler.

Das LehrstĂŒck zum „Sechsstern“ bietet diese drei Dinge an. Aber eine solche Unterrichtseinheit realisiert sich erst im konkreten Unterricht, wo wir verfolgen können, wie SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in der Praxis tatsĂ€chlich lernen. Der Film ĂŒber das Mathematik-LehrstĂŒck „Die Entdeckung der Axiomatik“ dokumentiert erstmals ein vollstĂ€ndiges LehrstĂŒck im Unterricht mit Lernenden der 9. Jahrgangsstufe des Gymnasiums Leonhard in Basel. (Das LehrstĂŒck ist fĂŒr die Klassenstufen 7. – 9. ausgelegt.)

Der folgende Text bietet didaktische ErlĂ€uterungen zum LehrstĂŒck-Film „Mit Euklid am Sechsstern das Beweisen verstehen. Die Entdeckung der Axiomatik“? (Text auf Englisch hier) Warum das? Die Lehrkunstdidaktik verwendet fĂŒr die Beschreibung von Schulunterricht eigene allgemeindidaktische Begriffe wie „LehrstĂŒck“ oder „Inszenierung“, die auch Fachleuten in der Schule nicht immer gelĂ€ufig sind. Damit das im Film gezeigte Unterrichtsgeschehen als Resultat bildungstheoretischer Überlegungen und didaktischer Planung deutbar wird, soll dieser Kommentar als Hilfsmittel dienen.

Die didaktischen ErlĂ€uterungen zum LehrstĂŒck-Film sind folgendermassen gegliedert: Das Raster ist ein Inszenierungsbericht, der dem Ablauf des Unterrichts im LehrstĂŒck folgt, wie ihn der Film zeigt. Darin sind didaktische bzw. lehrkunstdidaktische Begriffe kursiv gesetzt und sie werden im jeweils folgenden, ganz kursiv gesetzten Abschnitt erlĂ€utert. Am Schluss des Textes steht vor den Literaturhinweisen ein Überblick ĂŒber die wichtigsten lehrkunstdidaktischen Begriffe, bezogen auf das vorliegende LehrstĂŒck.


Ein LehrstĂŒck ist eine Unterrichtseinheit mittlerer LĂ€nge zu LerngegenstĂ€nden, die einen definierbaren Bildungswert haben und deshalb eine lĂ€ngere Verweildauer zur Vertiefung rechtfertigen und das selbstĂ€ndige und forschende Lernen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler erlauben.

Ein Inszenierungsbericht beschreibt die konkrete DurchfĂŒhrung eines LehrstĂŒcks im Unterricht. Der Begriff der Inszenierung ist bewusst gewĂ€hlt, denn LehrstĂŒcke sind wie TheaterstĂŒcke sorgfĂ€ltig komponierte Einheiten, die einem Spannungsbogen folgen und auf ihrem Gipfelpunkt einen Aha-Effekt, einen Erkenntnissprung bei den Beteiligten anstreben, der als Bildungszuwachs definiert werden kann.

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Der Film beginnt und endet mit der Einblendung des so genannten Denkbilds. Dieses kam als Zusammenfassung im gefilmten Unterricht zwar nicht zum Einsatz, weil es damals noch nicht entwickelt war, wohl aber die einzelnen Elemente wie die Schneeflocken, die Zirkelrose, die Verschiebelinien. FĂŒr kĂŒnftige Inszenierungen des LehrstĂŒcks soll es aber zur VerfĂŒgung stehen.


Das Denkbild ist die zusammenfassende grafische Überblicksdarstellung eines LehrstĂŒckunterrichts. Im Denkbild werden die Arbeits- und Erkenntnisprozesse des Unterrichts gestaltet und reflektiert: Was von allen begriffen ist, findet Aufnahme ins Bild. So lassen sich die einzelnen Lernschritte nachvollziehen, hier vom Ausgangspunkt der sechseckigen Schneeflocken ĂŒber die Zirkelrose bis zur Reduktion des Beweisaktes als Verschiebung eines gleichseitigen Dreiecks entlang des Durchmessers des Kreises (vgl. unten die Visualisierung der einzelnen Beweisschritte (aus: Gerwig 2015, S. 128))

Beweisschritte SechssternAm Schluss des achtstĂŒndigen Mathematikblocks befragten die Filmer einige SchĂŒlerinnen und SchĂŒler zu ihren EindrĂŒcken des LehrstĂŒckunterrichts. Alle Befragten hoben als positiv hervor, dass sie dank der Entschleunigung im Unterricht mehr Zeit hatten, selber zu denken. Lukas nannte in seiner Bilanz gar den Begriff der Vertiefung: „Ich fand es gut, denn es war mal etwas anderes als sonst immer die ĂŒbliche Lernmethode. Man hat sich in alles vertieft, also nicht nur alles oberflĂ€chlich angeschaut und dann ĂŒbersprungen. Man hat jedes Thema ausfĂŒhrlich untersucht und erklĂ€rt bekommen. Das ist halt eine schöne Erfahrung, die nicht jeder macht in der Schule.“

Die Lehrkunst hat zum Ziel, das Verstehen aller einzelnen Lernenden zu fördern. Sie strebt dieses Ziel an durch die Vertiefung von LerngegenstĂ€nden. Vertiefung erfordert automatisch mehr Zeit, also eine Entschleunigung des Unterrichts. LehrstĂŒcke als Unterrichtseinheiten mittlerer LĂ€nge sind so konzipiert, dass sie den Lernenden die Zeit zum selbstĂ€ndigen Denken planmĂ€ssig einrĂ€umen.

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Worum ging es denn bei dieser schönen Schulerfahrung, die Lukas erwĂ€hnte? Als die 25 SchĂŒlerinnen und SchĂŒler seiner 9. Jahrgangsklasse das Zimmer betreten, sieht alles anders aus als sonst: Die StĂŒhle stehen im Kreis herum, die Tische sind den WĂ€nden entlang platziert, auf jedem Stuhl liegt eine kleine Briefrolle, mit farbigem BĂ€ndel zusammengehalten, und jetzt bedeckt der Mathematiklehrer zu Beginn der OuvertĂŒre den ganzen Innenkreis mit grossen BlĂ€ttern, auf denen ganz verschiedene Dinge abgebildet sind: Schneeflocken, Algen, Quallen, Urtiere, Korallen, Kofferfische, Bienenwaben, aber auch Rosetten aus Kathedralen und anderes Masswerk aus alten Kirchenbauten. Das ist alles neu und wunderlich, kaum jemand aus der Klasse hat solches je so gesehen, denn auch die Schneeflocken wurden erstens isoliert, einzeln fotografiert und riesig vergrössert und die Urtiere aus dem Meer sind wissenschaftliche Zeichnungen nach der Natur. Der Lehrer zeigt allen schnell die BĂŒcher, wo er diese Bilder gefunden hat:  „Snowflakes in Photographs“ des Amerikaners Wilson Bentley, „Die Rosenfenster der gotischen Kathedralen“ von Painton Cowen und „Kunstformen der Natur“ des Deutschen Ernst Haeckel. Da kann man sich nur im Staunen verlieren ob einer derartigen Vielfalt der Natur, zumal der erste Schneeflockenfotograf schon entdeckt hatte, dass keine Schneeflocke gleich ist wie die andere. Und trotzdem, behauptet der Lehrer jetzt, gebe es auch eine Gemeinsamkeit bei den Schneekristallen, ja bei all den Natur- und Kulturdingen, die auf den BlĂ€ttern und den Briefrollen abgebildet seien. Was ist wohl dieses Gemeinsame? Dies soll im sokratischen GesprĂ€ch erörtert werden. Weil die Klasse Zeit hat, in den PhĂ€nomenen zu baden, entdecken die meisten schliesslich die gemeinsame Struktur, das Sechseck, bei den Schneesternen zum Beispiel sind die sechs Zacken auf den Mikroskop-Bildern deutlich zu erkennen.

 

Die Eröffnung oder – dramaturgisch gesprochen – die OuvertĂŒre eines LehrstĂŒcks dient immer der Begegnung mit dem aus der schulexternen RealitĂ€t geschöpften PhĂ€nomen. Dieses soll durchaus in seiner RĂ€tselhaftigkeit exponiert werden und zunĂ€chst Staunen auslösen. Die Vielfalt der Natur- und Kulturdinge hier ermöglicht es, die Lernenden im PhĂ€nomen ‚baden‘ zu lassen, und das offene sokratische PlenumsgesprĂ€ch in Alltagssprache, wo keine Äusserung ‚falsch‘ ist, fördert bei allen auch das entdeckende Lernen.

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Gibt es also so etwas wie eine gemeinsame Urform und können wir sie möglichst genau zeichnen? Diese Form der Leitfrage fĂŒhrt zur ersten Übung. Alle in der Klasse setzen sich jetzt an ihre Tische und probieren es aus: die einen gleich mit Zirkel und Lineal, wie sie es aus der Geometrie gewohnt sind, die andern zunĂ€chst als Skizze mit dem Bleistift oder Farbstift. Wie können wir ein regelmĂ€ssiges Sechseck konstruieren? Aus dem sechszackigen Stern oder mittels Zirkelkreisen? Es gibt verschiedene Wege zum Ziel, aber am schnellsten und prĂ€zise scheint die Methode zu sein, die Josepha mit dem Kreidezirkel jetzt an der Tafel vorfĂŒhrt: Zeichnet man einen Kreis mit beliebigem Radius und trĂ€gt diesen sechsmal auf dem Kreisrand ab, so bekommen wir ein regelmĂ€ssiges Sechseck. Nimmt man die sechs Eckpunkte wiederum als Mittelpunkte fĂŒr sechs weitere Kreise, so entsteht eine prĂ€chtige, blumenartige Struktur: die Zirkelrose! Jetzt entwerfen die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler auf ihren BlĂ€ttern viele bunte, grosse und kleine Zirkelrosen, ausgehend von regelmĂ€ssigen Sechsecken, die einem Kreis eingeschrieben sind.


Die Leit- oder Sogfrage in einem LehrstĂŒck ist das organisierende Zentrum des Unterrichts und entspringt im Idealfall aus der Lernsache selbst. Hier stammt sie als Anstoss noch vom Lehrer, aber ihren Sog entfaltet sie, sobald die Exaktheit der Zirkelrosenfiguren in Frage gestellt wird.

RegelmĂ€ssig? Sind unsere Sechsecke wirklich völlig regelmĂ€ssig? Schneiden sich die Kreise unserer „RosenblĂ€tter“ akkurat? Wer hat die perfekte Zirkelrose gezeichnet? Wie dĂŒnn muss die Bleistiftspitze sein, damit sich zwei Linien in genau einem Punkt schneiden? Mit dieser Formulierung der Leitfrage lanciert der Lehrer eine Diskussion, fĂŒr die die Klasse wieder im Stuhlkreis zusammensitzt. Denn das Problem der IdealitĂ€t mathematischer Begriffe wurde schon in der Antike erörtert. Um diese Art des frĂŒhen wissenschaftlichen Lernens zu verlebendigen, inszenieren wir in der Klasse einen Dialog zwischen den berĂŒhmten altgriechischen Denkern Sokrates und Hippokrates ĂŒber das besondere Wesen der Mathematik als Wissenschaft. Zwei SchĂŒlerinnen ĂŒbernehmen die Rollen der Dialogpartner, ein SchĂŒler ist der ErzĂ€hler. Am Schluss kommt Hippokrates zur Einsicht: In der Mathematik sind die Dinge genau das, was man von ihnen denkt. Im Gegensatz zu den Dingen, die in der Wirklichkeit vorkommen (wie unsere sechseckigen Natur- und Kulturformen) und mit denen sich die andern Wissenschaften beschĂ€ftigen. Also ist jeder Kreis, jedes Sechseck, jede Zirkelrose, die wir zeichnen, nur ein unvollkommener ReprĂ€sentant fĂŒr die perfekte Figur, die wir meinen. Oder kurz: Den idealen Sechsstern gibt’s nur in unserem Kopf!

Wo immer es möglich ist, versucht die Lehrkunstdidaktik, die historische Genese einer Lehrsache mit zu vermitteln und im Idealfall authentisches didaktisches Quellenmaterial zu verwenden. Weil dieses jedoch bei dieser zentralen Frage fehlt, behilft sich der Unterricht mit einem nachgestellten sokratischen Dialog des ungarischen Mathematikers Alfréd Rényi. Auch hier ist das Ziel, den Lernenden Raum und Zeit zu eigenem Denken einzurÀumen.

Damit verschiebt sich die Frage vom Wie zum Warum! Nicht wie konstruiere ich eine perfekte geometrische Figur, sondern warum schliesst sich die ideale Zirkelrose genau? Mathematisch formuliert: Warum lĂ€sst sich der Radius eines beliebigen Kreises genau sechsmal auf dem Kreisrand abtragen? Kann ich beweisen, dass es genau sechsmal geht? Jetzt ist die Schulklasse mit diesem Problem endgĂŒltig in der Antike gelandet und der erste Akt des LehrstĂŒcks setzt ein. Diese Frage spricht ein uraltes Problem an, an dem die AnfĂ€nge der mit Beweisen operierenden Wissenschaft Mathematik deutlich werden: Denn schon Euklid von Alexandria hat vor ĂŒber 2000 Jahren erstmals Warum-Fragen zu mathematischen Problemen gestellt. Wenn das Warum beantwortet ist, hat sie die Wie-Frage gleich mitgeklĂ€rt.

Und: Das ist gleichzeitig der Wechsel von den alten Ägyptern zu den alten Griechen! Erstere waren Rechen- und MesskĂŒnstler, aber keine Mathematiker. Sie haben die Dinge nicht hinterfragt. Die Griechen schon. Daher ist das Beweisen ja auch erst bei ihnen entstanden und die Mathematik macht innerhalb weniger Jahrhunderte deutlich grössere SprĂŒnge, als sie in den 3000 Jahren zuvor bei den Ägyptern machte.


Mit der Formulierung der Warum-Frage ist die didaktische HinfĂŒhrung zum Kern des LehrstĂŒcks abgeschlossen: dem Verfahren des mathematischen Beweisens. Mit der Suche nach dem konkreten Beweisverfahren fĂŒr das Sechseck beginnt deshalb auch der erste Akt und die Begegnung mit dem GewĂ€hrsmann aus der Antike: Euklid.

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Euklid? Warum geht jetzt der Lehrer plötzlich raus, um jemanden abzuholen, wie er kurz sagte? Ah, da kommt er ja wieder, aber nein: Er hat sich einen weissen Umhang umgeworfen, tut wie ein Fremder und spricht: „Mein Name ist Euklid von Alexandria. Ich begrĂŒsse euch, liebe SchĂŒlerinnen und SchĂŒler. Ich bin froh, dass ich endlich bei euch bin nach meiner langen Reise. Geboren bin ich 300 Jahre vor eurer Zeitrechnung 
 im antiken Griechenland. Ich wohne aber schon seit langem in Alexandria.“ Er habe sich zu seiner Zeit auch schon mit dem Beweisen von mathematischen Problemen befasst, auch mit diesem. Wie schön! Hier kommt er also selbst wieder, um uns zu helfen und uns zu motivieren.

Die Lehrkunstdidaktik ist offen gegenĂŒber allen didaktischen Formen, auch dem Rollenspiel, wenn es hilft, die Spannung des Lernprozesses aufrechtzuerhalten. In der Gesamtdramaturgie des LehrstĂŒcks ist die „Begegnung“ mit Euklids Beweis in seinem „Elemente“-Buch fĂŒr den dritten Akt vorgesehen; schon hier weiss die Klasse jedoch, dass sie auf den Spuren eines frĂŒheren Gelehrten weiterschreitet.

 
Wir kennen zwar die Lösung, aber leider nicht den Weg, den Euklid bis zum Beweis dieses Problems gegangen sei, sagt nun wieder der Lehrer. Deshalb bleibt der Klasse nur, sich selbst auf die Suche nach einer BegrĂŒndung zu machen, allerdings direkt auf den Spuren des ĂŒberragenden frĂŒhen Mathematikers Euklid. Alle bekommen nun genug Zeit, sich des Problems anzunehmen, immer im Dreischritt von Ich-Du-Wir: ZunĂ€chst ĂŒberlegen alle still fĂŒr sich alleine, skizzieren ihre Denkwege in Zeichnungen oder Notizen auf ihren BlĂ€ttern, dann tauschen sie sich mit den Sitznachbarn aus und testen, ob die eigenen Überlegungen von andern nachvollzogen werden können, schliesslich prĂ€sentieren Einzelne oder kleine Gruppen die Ideen im Plenum. Alle BeitrĂ€ge sind willkommen, niemand wird ausgeschlossen, alle dĂŒrfen ihre Gedanken in ihrer Alltagssprache Ă€ussern und alles an Hilfsmitteln benutzen, was sie benötigen, den Rechner, ihre Zeichenwerkzeuge, SchnĂŒre oder Dreieckklötzchen. Es zeigt sich aber bald: Das zentrale Mittel bei solchem Knobeln ist das Denken selbst, ist das Vermögen, logische Schritte zu machen, die in ihrer Abfolge einen nachvollziehbaren Denkweg bilden – im Fremdwort: eine Methode. Denn den idealen Sechsstern gibt’s ja nur in unseren Köpfen, also muss auch der Beweis fĂŒr seine RegelmĂ€ssigkeit in unseren Köpfen entstehen. Alle sind jetzt echt Forschende.

Dass in diesem LehrstĂŒckakt jegliche ‚materiellen‘ Hilfsmittel eingesetzt werden dĂŒrfen, ist selbstverstĂ€ndlich. Die Einteilung der Such- und  Denkprozesse in Ich-, Du- und Wir-Phasen ist hier eine bewusste didaktische Vorgabe, weil in einem LehrstĂŒck das VerhĂ€ltnis von individuellem Lernen und Austausch in der Gruppe ausgeglichen sein sollte. Die so genannte Ich-Wir-Balance ist eine der acht LehrstĂŒckkomponenten.

Der Lehrer liefert nun im zweiten Akt die von Martin Wagenschein so genannten Uferhilfen, zum Beispiel bespricht er mit der Klasse, welche Strategien man auf einem solchen Forschungsweg anwenden könnte. Wenn das Problem ĂŒberaus kompliziert ist, hilft vielleicht eine Vereinfachung. Wenn das dem Kreis eingeschriebene Sechseck sechs gleichseitige Dreiecke umfasst, die alle die KantenlĂ€nge des Kreisradius haben, ist es vielleicht einfacher, den Kreis wegzulassen und nur noch mit den Dreiecken weiterzufahren. Eine weitere Vereinfachung besteht darin, drei davon beiseite zu lassen, also den Kreis am Durchmesser zu teilen. Dann haben wir es noch mit drei Dreiecken zu tun oder mit einer Figur, die sich im anderen Halbkreis ‚wiederholt‘. Wichtig ist einzig, dass das Problem nach der Vereinfachung nicht verĂ€ndert ist. Das sei nach jedem Schritt zu prĂŒfen, mahnt der Lehrer.

Der zweite Akt des LehrstĂŒcks ist ganz der Suche nach einer BegrĂŒndung fĂŒr die Entdeckung gewidmet, dass sich der Radius eines beliebigen Kreises genau sechs Mal auf dem Rand abtragen lĂ€sst. Um weiter zu kommen, sind Strategien zur Vereinfachung der Problemstellung und zur Umformulierung der Grundfrage zu entwickeln.

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Jetzt lĂ€uft das forschende Lernen im Gedankenlabor an. Die getaktete Unterrichtszeit wird irrelevant, die Klasse braucht jetzt die Zeit, die sie eben braucht, um in ihrer Suche voranzukommen. Umwege und Sackgassen gehören dazu – wie in jeder Forschungsarbeit seit den AnfĂ€ngen der Wissenschaft. Aber spannend bleibt es allemal. Was ist vom Vorschlag zu halten, den Anna und Camille auf der hintersten Bank und dann nochmals an der Tafel vorne prĂ€sentieren? Sie operieren vor allem mit Dreierzahlen, was sich ja anbietet bei Sechsecken und Dreiecken, die zudem alle mit drei 60-Grad-Winkeln bestĂŒckt sind. Leider kommen sie mit ihrer Beweisrechnung bei der Klasse noch nicht an; der Lehrer empfiehlt ihnen, sie zu Hause schriftlich festzuhalten und dann nochmals vorzulegen. Verschiedene SchĂŒlerinnen und SchĂŒler versuchen einen Weg ĂŒber die Winkel in den gleichseitigen Dreiecken, ausgehend vom Wissen darĂŒber, dass der Kreis 360 Grad umfasst. Nicolas demonstriert in aller Klarheit am Sechsstern auf der Tafel vorne, dass alle sechs Dreiecke gleich gross sein mĂŒssen, weil alle 18 Winkel immer 60-Gradwinkel sind. Da wirkt der Lehrer geradezu als Spielverderber, wenn er moniert, dann mĂŒssten sie aber zuerst noch beweisen, dass diese Winkel genau 60 Grad betrĂŒgen und nicht 58 oder 63. Der Weg ĂŒber die Winkelvermessung scheint zwar gangbar, aber er bringt doch keine wirkliche Einsicht, weil man ja den wirklichen Grund fĂŒr das Radius-PhĂ€nomen nicht sehen kann. Zur ErklĂ€rung wird hier ein anderer, nicht verstandener Satz herbeigezogen. Man bemĂŒht den mĂ€chtigen Satz ĂŒber die Winkelsumme, der ja fĂŒr alle unendlich vielen Dreiecke gilt. Wir haben es hier aber mit dem einfachsten aller Dreiecke zu tun, einem gleichseitigen und damit auch gleichwinkligen Dreieck. Muss man da wirklich den Winkelsummensatz benutzen, oder gibt es noch einen anderen, einfacheren Beweis, bei dem nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird?

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Ein Hauptziel der Lehrkunstdidaktik ist es, das forschende Lernen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler zu aktivieren. Sie sollen die Erkenntniswege ihrer VorgĂ€nger und VorgĂ€ngerinnen selbst abschreiten können und dabei auch erfahren und einsehen, dass Irrwege und Sackgassen notwendig zum Forschungs- und Lernprozess dazugehören.

Also doch zurĂŒck zu den vereinfachten Figuren? Jede Gruppe hat nun die sechs gleichseitigen Dreiecke als Holzklötzchen vor sich und versucht verschiedene Kombinationen, um den Gedanken auf die SprĂŒnge zu helfen. Die Frage lautet jetzt: Lassen sich sechs gleichseitige Dreiecke lĂŒckenlos rundherum zusammenschieben? Wenn wir die Figur durch Halbierung weiter vereinfachen, mĂŒssen wir das Problem erneut umformulieren: Lassen sich drei gleichseitige Dreiecke lĂŒckenlos an einer Geraden anlegen? Der Weg fĂŒhrt wohl irgendwie ĂŒber eine Verschiebung zum Ziel. Aber wie? Erneut erinnert Anna daran, dass das Herumschieben der Klötzchen keinerlei Beweiskraft habe, weil keines der Holzdreiecke exakt gleichseitig sein könne. Der Lehrer nimmt diese Bemerkung dankbar auf und schlĂ€gt vor, zur Zeichnung des ‚halben‘ Sechsecks bzw. der drei Dreiecke an der Geraden des Durchmessers auf der Tafel zurĂŒckzukehren. Die Vereinfachung des Ausgangsproblems habe zu folgender Fragestellung gefĂŒhrt: „Wenn zwei Dreiecke nebeneinander an einer Geraden anliegen, passt dann ein drittes in die LĂŒcke?“

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Jetzt steigt die Spannung auf einen Höhepunkt, alle schauen gebannt nach vorne, wo der Lehrer den Beweis an der Tafel pantomimisch vorfĂŒhrt. Es quietscht gehörig, als er sein prĂ€pariertes Pappdreieck entlang der Geraden vom ersten anliegenden Dreieck zum andern hinĂŒberzieht, weil fĂŒnf farbige Kreiden an verschiedenen Stellen im Pappdreieck stecken und bei dieser Verschiebung also fĂŒnf Striche hinterlassen, die alle gleich lang, gerade und parallel sind. Die Spannung hĂ€lt an; alle haben die Chance, die Lösung fĂŒr sich zu formulieren, aber niemand soll sie vorschnell herausplappern. Der Lehrer sieht da und dort sich aufhellende Gesichter und spontane Aha-Ausrufe, die zeigen, bei wem der Groschen schon gefallen ist. Einige von ihnen verraten ihre Entdeckungen flĂŒsternd dem Lehrer; alle sollen die Chance haben, selbst auf die Lösung zu stossen. Josepha, die dem Lehrer eine perfekte Formulierung der Lösung zuflĂŒstert, darf stumm an der Tafel weitere Hinweise geben: Sie nimmt das Pappdreieck vom Pult, hĂ€lt es mit einer Seite nacheinander an alle farbigen Striche und verdeutlicht damit, dass alle die gleiche LĂ€nge haben, nĂ€mlich exakt die LĂ€nge einer Dreiecksseite. Diese Distanz haben natĂŒrlich alle Punkte im Dreieck bei der Verschiebung zurĂŒckgelegt, auch die Dreiecksspitze. Damit passt ein drittes Dreieck genau in die LĂŒcke: Drei Dreiecke lassen sich nebeneinander lĂŒckenlos an einer Geraden anlegen. Am Ende haben die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler das Problem also auf eine Dreiecksverschiebung am halben Sechseck zurĂŒckgefĂŒhrt. Das anfangs merkwĂŒrdige und erstaunliche PhĂ€nomen ist fĂŒr die Klasse jetzt plötzlich selbstverstĂ€ndlich geworden, weil ‚logisch‘ erklĂ€rbar.

Der Lehrer lobt nun alle fĂŒr ihre Ausdauer beim langen Ringen mit der Sache. „Wisst ihr, was ihr in den letzten paar Stunden gerade gemacht habt? Ihr habt einen vorzĂŒglichen mathematischen Beweis gefĂŒhrt. So geht das mathematische Beweisen!“ Jetzt gehen die Emotionen hoch: Anna und Camille klatschen sich ab, Lukas und Nicolas trommeln mit den FĂ€usten auf ihre Brust, alle lachen und sind stolz auf sich selber.

 

Die letzte Szene im zweiten Akt markiert – wie im klassischen Drama – dramaturgisch die Peripetie im LehrstĂŒck. Um die Spannung bis zum letzten Moment aufrecht zu erhalten, spielt die Lehrkraft den Beweis bewusst vor und ĂŒberlĂ€sst die ErklĂ€rung des Gesehenen jedem einzelnen Mitglied der Lerngruppe. Das Erzeugen von Emotionen wird in der Lehrkunstdidaktik planmĂ€ssig eingesetzt, weil die Lernpsychologie die zentrale Rolle der (positiven) GefĂŒhle beim Lernen lĂ€ngst nachgewiesen hat.

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Mit dem dritten Akt kommt schliesslich Euklid wieder ins Spiel – diesmal in Form eines dicken braunen Buchs, das der Lehrer vorne auf dem Projektor platziert. Es ist die deutsche Übersetzung jenes Werks, das nach der Bibel weltweit die grösste Verbreitung fand: der 2000-Jahre-Klassiker „Die Elemente“. Darin hat Euklid das gesamte mathematische Wissen seiner Zeit zusammengefasst und alle SĂ€tze bewiesen, indem er sie logisch auf ganz wenige, nĂ€mlich auf zehn Axiome zurĂŒckgefĂŒhrt hat. Die Klasse lernt nun ‚ihren‘ Beweis im Wortlaut und in der Darstellung kennen, wie ihn Euklid niedergeschrieben hat. Somit können die Lernenden ihr eigenes Tun direkt an die lange Kulturtradition des mathematischen Denkens anschliessen.

 

Elemente-Seite1024_72Genetisches Lernen besteht darin, etwas Gewordenes – hier das Verfahren des mathematischen Beweisens – als Werdendes zu entdecken oder den ursprĂŒnglichen kollektiven Entdeckungsprozess heute individuell lernend nachzuvollziehen. Im LehrstĂŒck beschreiten die Lernenden diesen Weg am Beispiel des einem Kreis eingeschriebenen Sechsecks, ausgehend vom verblĂŒffenden NaturphĂ€nomen bis hin zum mathematischen Nachweis seiner eigentĂŒmlichen Ideal-Form. In Euklid treffen sie sodann einen WissenschaftsenzyklopĂ€disten, der diese Forschungsresultate vor 2000 Jahren bereits systematisiert und gesammelt hat.


Ganz zum Schluss erfahren sie, dass Euklids Axiome weit ĂŒber die Mathematik hinaus ausstrahlen, zum Beispiel sein erstes Axiom, das auch beim Sechsstern-Beweis die logische Basis abgibt: „Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.“ Ein kurzer Ausschnitt aus einem Hollywood-Film ĂŒber Abraham Lincoln zeigt, wie der US-PrĂ€sident aus dem 19. Jahrhundert dieses Axiom Euklids zitiert und es natĂŒrlich politisch umsetzt, indem er die Sklaverei abgeschafft und alle Menschen als gleichberechtigte Wesen anerkannt hat.


Mit der Axiomatik bringt das LehrstĂŒck ein exemplarisches Thema in den Horizont der Lernenden, das ĂŒber die Sprachlogik in philosophische Fragen ĂŒbergeht und so in viele andere Fach- und Lebensbereiche ausstrahlt. Das strenge Verfahren des mathematischen Beweisens stellt wiederum das exemplarische Merkmal der Mathematik als Wissenschaft heraus.

ÜBERBLICK:
METHODENTRIAS, LEHRIDEE, LEHRSTÜCKKOMPONENTEN

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Hier folgen die ersten 4 LehrstĂŒck-Komponenten:

Methodentrias2_1Und hier die letzten 4 LehrstĂŒck-Komponenten:

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Literatur

  • Bentley, Wilson Alwyn(2000): Snowflakes in Photographs. Dover Publications. Mineola, New York. [Erstausgabe dieser Edition: 1931. Original: Snow crystals, 1898].
  • Cowen, Painton(1979): Die Rosenfenster der gotischen Kathedralen. Verlag Herder. Freiburg.
  • Gerwig, Mario (2015): Beweisen verstehen im Mathematikunterricht. Axiomatik, Pythagoras und Primzahlen als Exempel der Lehrkunstdidaktik. Wiesbaden: Springer
  • Haeckel, Ernst(32009):Kunstformen der Natur. Hundert Illustrationstafeln mit beschriebenem Text, allgemeine ErlĂ€uterung und systematische Übersicht. Wiesbaden. [Erstausgabe: 1899]
  • Nagler, Jörg (22013): Abraham Lincoln. Amerikas großer PrĂ€sident. Eine Biographie. H. Beck. MĂŒnchen.
  • RĂ©nyi, AlfrĂ©d (1966): Sokratischer Dialog. In: Neue Sammlung. Göttinger BlĂ€tter fĂŒr Kultur und Erziehung. 6. Jahrgang. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen. S. 284-304.
  • Thaer, Clemens(42005): Die Elemente von Euklid. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Band 235. Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch. Frankfurt am Main
  • Wagenschein, Martin(42008): Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Beltz. Weinheim und Basel. [Erstausgabe: 1968]
  • Wildhirt, Susanne (2008): LehrstĂŒckunterricht gestalten. Lehrkunstdidaktik 2, Bern: hep-Verlag
 

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