in chinesisches Sprichwort sagt: Sie schlafen im gleichen Bett - aber träumen sie auch denselben Traum?
Unter dem vielversprechenden Titel "Sackgassen der Bildungsreform: Politische Zwecke - Ökonomisches Kalkül - Pädagogischer Sinn" fand am Wochenende (19./20. April) in der Universität Wien die Jahrestagung der "Gesellschaft für Bildung und Wissen" (GBW) statt, welche in Kooperation mit der Universität Graz sowie der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien ausgerichtet wurde. Und schon früh wurden die beim Studium der Rednerliste aufkommenden Ahnungen, in welche Richtung sich die Veranstaltung entwickeln könnte, bestätigt: Der sogenannte "kompetenzorientierte Unterricht" stand im Zentrum eines jeden Vortrags und folgerichtig - und sehr berechtigt - wurde dieser aus allen Richtungen kritisch attackiert (das Programm der Veranstaltung findet sich hier ).
Doch gab es auch zur Konstruktivität und Produktivität ermahnende Beiträge - ein Hoffnungsschimmer: Georg Hans Neuweg (ao. Univ.-Prof. für Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Johannes Keppler Universität Linz) wies in seinem hochintelligenten und äußerst fundierten Vortrag zum Thema "Der gute Mensch und sein Wissen. Was es einmal hieß, kompetent zu sein" auf den historisch sehr bedeutsamen Hintergrund des Kompetenzbegriffes hin und folgerte aus seinen Überlegungen schließlich, dass ein Großteil der weit verbreiteten Kompetenzkritik den Kern der Sache nicht treffe, was für eine konstruktive Diskussion nicht sonderlich zuträglich sei.
Sehr ähnlich sah es Roland Reichenbach (Univ.-Prof. für Allg. Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät Zürich und Vizepräsident der GBW), der sehr energisch darauf hinwies, dass man mit der zwar sehr berechtigten, aber nun doch schon lang andauernden, scheinbar nicht enden wollenden Kompetenzschelte keinen Schritt weiter komme. Es sind also konstruktive Möglichkeiten zum weiteren Umgang mit der gegenwärtigen Kompetenzorientierung gesucht. Und dazu - das kam in jedem Beitrag deutlich heraus - dürften die Inhalte zukünftig keinesfalls mehr so sträflich vernachlässigt werden, wie es zurzeit der Fall ist.
Den einzigen Beitrag in diese Richtung brachte Andreas Gruschka (Univ.-Prof. für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt und Präsident der GBW) in seinem Eröffnungsvortrag: Nachdem Gruschka seine Ideen und Ansprüche die verstehensorientierte Aufbereitung eines Lerninhalts betreffend dargelegt hatte (er stellt die Tendenzen der aktuellen Kompetenzorientierung auf den Kopf: zu Beginn müsse eine genaue Analyse, welches Wissen und Können in dem jeweiligen Inhalt vorausgesetzt sind, erfolgen, so dass die Kompetenzen nicht am Anfang stehen, sondern sich ganz organisch aus der Erschließung der besonderen Sache ergeben) führte er die Lehrkunstdidaktik ins Feld: "Mustert man die inzwischen vorliegenden didaktischen Handreichungen zum kompetenzorientierten Unterricht durch, so lässt sich nur sehr selten etwas davon finden, was diesen Anspruch erfüllt. (...) Wie sorgfältig dagegen vorzugehen wäre, wenn man denn jene Erschließung und das Verstehen ernst nehmen würde, zeigen die Lehr-Beispiele der Wagenschein-Schule, die heute fortgesetzt wird durch die sehr empfehlenswerten Lehrstücke der sogenannten Lehrkunstdidaktik. Mein Marburger Kollege Hans Christoph Berg hat das Verdienst, diese Lehrkunst-Beispiele entwickelt und versammelt zu haben. Wenn man wissen möchte, wie man Verstehen lehren kann, wird man dort sehr intensiv und in einer Breite fündig."
Eine Aussage, die als Ausblick auf den Weitergang der Diskussionen stehen kann: In Zukunft darf es nicht mehr nur darum gehen, die Sackgassen der Bildungsreform in allen Details auszuleuchten, zu beschreiben und zu analysieren. Vielmehr ist es jetzt an der Zeit, intensiv über mögliche Auswege aus diesen Sackgassen zu diskutieren. Es ist deutlich geworden: Wir schlafen im gleichen Bett - doch träumen wir auch denselben Traum?
von Mario Gerwig
Update: Seit einiger Zeit sind die Vorträge von Andreas Gruschka (Uni Frankfurt), Hans Peter Klein (Uni Frankfurt) und Roland Reichenbach (Uni Zürich) sowie die Podiumsdiskussion mit Andreas Gruschka und Konrad Paul Liessmann (Uni Wien) als Video online. Sehr empfehlenswert! Hier geht's zu den Beiträgen.