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Held des aristotelischen Theaters tatsÀchlich abgeschafft

Jede Neu-Inszenierung eines LehrstĂŒcks fĂŒhrt auch zu neuen Einsichten und Entdeckungen. So geschehen bei einer Inszenierung von „Leben des G.G. – Leben des B.B.“, also dem LehrstĂŒck zu Brechts „Galilei“-Drama (vgl. Beschreibung und Material hier). Ein Blick auf die amerikanische Fassung mit dem Titel „Galileo“ enthĂŒllte einen pointierteren Szenenschluss in Szene 12 als die deutsche Urfassung von 1938: Das abschliessende Couplet erhĂ€lt dadurch Motto-QualitĂ€ten. Ein Bericht aus dem Unterricht.

Da war ich doch wieder mal beim LehrstĂŒck „Leben des Galilei“ von Brecht bei jener LehrstĂŒck-Peripetie-Stelle, wo wir mitverfolgen können, wie Brecht den tragischen Helden des aristotelischen Theaters abschafft. NatĂŒrlich brachte ich diese entscheidende Szene der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts selbst wieder möglichst dramatisch: „Brecht, du Dussel, jetzt hast du in deiner Vorlage bei Jakob BĂŒhrer in Szene III, 4 den Showdown auf dem Serviertablett: Galilei vs. Papst (Urban VIII), Wissenschaft vs. Kirche, Vernunft vs. Macht, Zukunft vs. Vergangenheit – alles ist drin in dieser entscheidenden Konfrontation zwischen dem Protagonisten und dem Antagonisten, selbst der berĂŒhmteste Spruch Galileis als Pointe: „Und sie bewegt sich doch!“ 
.. und was machst du?“

Wir suchen in Brechts Drama nach Spuren seiner Vorlage, dem Drama „Galileo Galilei“ des Schweizer Schriftstellers Jakob BĂŒhrer, das die Studierenden vor sich haben. Das Ergebnis: Nichts! Bei Brecht begegnen sich Galilei und der Papst gar nie direkt (ganz gegen die historische RealitĂ€t, wo mehrere Treffen verbĂŒrgt sind!). Was soll das?

Schauen wir uns halt gemeinsam nochmals die Prozess-Szene an (Szene 12 in der Fassung von 1938), wo sich Brecht auch ganz schöne Abweichungen von Szene IV,5 in BĂŒhrers Vorlage erlaubt (aber offensichtlich BĂŒhrers Drama vor sich hat – nur: Das im Detail zu zeigen, gĂ€be eine super Dissertation. Wer schreibt sie?). Und gehen der KĂŒrze halber gleich zur Pointe. Da kommt der bald siebzig Jahre alte Forscher Galilei am 22. Juni 1633 nach seinem Abschwören als geschlagener Mann zurĂŒck zu seiner Tochter und den SchĂŒlern im „Palast des Florentinischen Gesandten in Rom.“ Sein MusterschĂŒler Andrea Sarti, den wir seit der ersten Szene kennen – damals war er noch ein Kind – , hat ein Wechselbad von GefĂŒhlen hinter sich und ist jetzt masslos enttĂ€uscht ĂŒber sein wissenschaftliches und menschliches Vorbild Galilei, weil dieser seine Haut gerettet und die Vernunft verraten habe. Und er ruft seine EnttĂ€uschung laut heraus:

„UnglĂŒcklich das Land, das keine Helden hat!“

Darauf hat er, der junge Mann, einen Zusammenbruch – und der (alte, gebrochene) Galilei empfiehlt ganz ruhig: „Gebt ihm ein Glas Wasser!“ Beim Abgang des von den anderen gestĂŒtzten Andrea beschliesst dann Galilei das Zeilenpaar:

„Nein. UnglĂŒcklich das Land, das Helden nötig hat.“

Hier passiert die Abschaffung des tragischen Helden: Galileos Replik an Andrea

Hier passiert die Abschaffung des tragischen Helden: Galileos Replik an Andrea

Die Abschaffung des tragischen Helden bei Brecht

Das sei die – notwendige – Abschaffung des tragischen Helden bei Brecht und die eigentliche Geburtsstunde des epischen Theaters, verkĂŒndige ich mit bewusster Emphase. Und meine Studierenden sollen das glauben!? Skeptisches Staunen in ihren Gesichtern, aber wie sollen sie diese These ĂŒberprĂŒfen? So steht’s in keinem Schulbuch und im Internet auch nur auf der verdĂ€chtigen Lehrkunst-Website. Was tun?

ZurĂŒck zum genetischen Verfahren! Im ganzen LehrstĂŒck blicken wir ja immer wieder Brecht ĂŒber die Schulter und befragen ihn: Brecht, wie hast du’s gemacht? Wie hast du aus BĂŒhrers Vorlage dein StĂŒck gemacht? Und jetzt: Was hast du weiter – nach 1938 – mit deinem StĂŒck gemacht? Hast du etwa diese Kernszene mit ihrer Kernpointe stehen gelassen oder auch geĂ€ndert? Und siehe! Er hat sie verĂ€ndert! Hatte ich doch die Szene 12 den Studierenden im Film von Joseph Losey auf Englisch gezeigt, den Film, der auf die englische Version und Inszenierung des Dramas mit dem Titel „Galileo“ von 1947 zurĂŒckgeht. Auf einem Handout konnte die Klasse den englischen Text mitverfolgen. Und wie erscheint die Pointe dort? Andreas Ausruf heisst:

„Unhappy is the land that breeds no hero“,
Galileos Replik:
“Incorrect: “Unhappy is the land that needs a hero.””

Fazit: Jetzt ist die Pointe ein echtes Couplet mit Binnen- und Endreim und einem unerwartet poetischen Verb (to breed), ganz in der Shakespeare’schen Tradition, eine klassische Aufwertung des Szenenschlusses und eine sprachliche VerstĂ€rkung des Inhalts. (Doch noch etwas Klassisches zur Abschaffung des aristotelischen Dramas (zu der ja Shakespeare krĂ€ftig mitgeholfen hat!).

In der 3. Version von 1956 kehrt Brecht dann wieder zur ersten Fassung von 1938 zurĂŒck – im „Galileo“ war ihm offensichtlich zu viel Charles Laughton-Ton drin, denn die englische Fassung hat Brecht bekanntlich mit diesem britisch-amerikanischen Schauspieler in den USA entwickelt.

Ist diese Szene tatsĂ€chlich das Zentrum von Brechts StĂŒck?

Die Frage kann auch anders gestellt werden: Ist diese Abschaffung des tragischen Helden wirklich das Zentrum des Brecht'schen StĂŒcks? Und ist es in unserem LehrstĂŒck didaktisch-methodisch gesehen auch richtig, die Peripetie-Szene bei BĂŒhrer (wo er seinen Galilei zum – legendĂ€ren – Helden macht mit dem trotzigen Nachsatz: "Und sie bewegt sich doch!") mit dieser Szene 12 bei Brecht zu vergleichen? Denn Szene 12 ist ja die Prozess-Szene IV, 5 in Jakob BĂŒhrers FĂŒnfakter, wo Brecht auch wieder einige Ideen von BĂŒhrer geklaut und in meinem Augen viel besser umgesetzt hat (z.B. die Spiegelung des Prozesses im zuschauenden Publikum, einem genuin epischen Zug des Dramas). Oder nochmals anders gedreht: Antwortet das "UnglĂŒcklich das Land, das Helden nötig hat." des Brecht'schen Galilei wirklich auf den Legendensatz "Und sie bewegt sich doch!" des BĂŒhrer'schen Galilei?

Und jetzt die Vermutung: Wenn es fĂŒr Brecht wirklich das Zentrum des StĂŒcks war, muss es Hinweise darauf geben. Und einen recht schlagenden Hinweis prĂ€sentiert die Umarbeitung in der amerikanischen Fassung in dreierlei Hinsicht:
1. Es ist eine Stelle, die nicht einfach "ĂŒbersetzt", sondern auch handlungsmĂ€ssig abgeĂ€ndert wird, indem die "Unterbrechung" des Couplets durch anderen Dialog entfĂ€llt (nach dem ersten Vers durch Andrea ist nur noch der stumme Abgang der andern Figuren verordnet ("Federzoni, Little Monk, followed by Andrea, exeunt")).
2. das Couplet wird verdichtet durch einen echten Binnenreim (breeds - needs) und dabei auch poetisiert durch das viel stÀrker metaphorische Verb "to breed".
3. die Didaktisierung des ganzen StĂŒcks wird verstĂ€rkt (zu den meist versifizierten – und von den (aus der Zauberflöte entliehenen) Knaben gesungenen Motto-Versen zu Beginn der Szenen tritt jetzt noch eine pointenartige Zusammenfassung einer Szene am Ende – und es ist dies der einzige Shakespearehafte Schluss im ganzen StĂŒck!

Und vielleicht noch diese kleine Beobachtung zur Didaktisierungsthese: Galilei tritt ja in dieser Szene 12 – wieder – als der etwas ruppige Lehrer auf wie schon in Szene 1. Sein MusterschĂŒler ist wiederum Andrea, der hier erneut eine falsche These in den Raum setzt. In der deutschen Fassung sagt Galilei einfach "Nein" vor seinem Couplet-Antwortvers, in der amerikanischen Fassung aber explizit lehrerhaft: "Incorrect".

Stephan Schmidlin