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Lehrkunst hat nachhaltiges Einwurzelungspotential

astian Hackler war dabei an der ersten "Summer School Lehrkunstdidaktik".
Wir haben ihn zu seiner Motivation und seinen Erfahrungen mit der Lehrkunstdidaktik befragt, dies in unserem Newsletter-Serie "Nachgefragt" (Newletter 2/2017).
Die Fragen stellte Stephan Schmidlin.

 

Bastian, du hast aktiv und mit eigenen Beiträgen an der ersten Summer School der Lehrkunst teilgenommen. Weshalb war dir dieser Anlass wichtig?

Da muss ich wohl zunächst ein bisschen ausholen, wie ich eigentlich ursprünglich zur Lehrkunst gekommen bin, denn sonst lassen sich die Kernpunkte meiner persönlichen Motivation kaum verständlich machen: Nach einem abgeschlossenen Diplomstudium in Mathematik mit Nebenfach Informatik an der Philipps-Universität Marburg habe ich ebendort eine Promotion aufgenommen und parallel zu dieser im Frühjahr des Jahres 2012 ein ergänzendes Lehramtsstudium – naheliegenderweise in den Fächern Mathematik und Informatik – begonnen, da mir zu diesem Zeitpunkt klar war, dass ich auf jeden Fall Lehre/Bildungsarbeit betreiben möchte und mich in der Qualifikation diesbezüglich möglichst breit aufstellen wollte. Direkt im zweiten Semester dieses Studiums hatte ich das grosse Glück und Vergnügen, auf eine freundschaftliche Empfehlung hin in Hans Christoph Bergs Lehrkunstseminar zu geraten – und gehe auch über das erste Staatsexamen im Frühjahr 2016 hinaus bis heute immer wieder hin, soweit es die Terminlage erlaubt, da es auch aus der fortgeschrittenen Perspektive gemeinsam immer noch viel Neues und Bereicherndes zu entdecken gibt.

Aktuell befinde ich mich im zweiten Hauptsemester des Referendariats an der im Marburger Seminargebiet gelegenen Edertalschule Frankenberg und hatte dort bereits im ersten Hauptsemester die jahrelang ersehnte Gelegenheit, selbst Lehrstücke zu erproben. Gleich vier verschiedene Mathematiklehrstücke sind es in diesem einen Semester geworden: "Wahrscheinlichkeitsrechnung mit Pascal" und "Euklids Sechseckbeweis" in einer sechsten Klasse, sowie "Logarithmen mit Bürgi" und "Die platonischen Körper" in einer zehnten Klasse. ("Pythagoras" mitsamt Optimierungen in einer neunten Klasse  soll dieses Semester im Rahmen der zweiten Staatsexamensarbeit folgen. Ausserdem steht „Achilles“ in einer E-Phase an.)

Die platonischen Körper aus dem gleichnamigen Lehrstück

 

Diese Referendariatserfahrungen gaben also den Anstoss für deinen Beitrag in der Lehrkunst Summer School? Wie war der Zusammenhang genau?

An allen Lehrstücken habe ich beim Planen und Unterrichten auch mehr oder weniger umfangreiche und wichtige Optimierungsschritte durchgeführt und konnte die wertvolle Erfahrung sammeln, dass selbst in einem mit zahlreichen Ausbildungsveranstaltungen durchsetzten Schulalltag noch Platz für die Bildungsbemühungen der Lehrkunstdidaktik sein kann, wenn man aus Überzeugung und mit Freude daran arbeitet. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier grosse Disziplin beim Zeit- und sonstigen Ressourcenmanagement gefragt war und damit bin ich nun bei meiner Veranlassung für den eigenen Beitrag zur Summer School, der in der Organisation eines Workshops zur Konzeption eines Praxisleitfadens für Lehrstückinszenierungen bestand. Dieser soll demnächst vor allem solchen Lehrenden eine Einstiegshilfe bieten können, die wie ich im letzten Halbjahr zwar mit dem nötigen Engagement und Interesse, aber ohne Vorerfahrungen den "Sprung ins kalte Wasser" wagen wollen. Das dürfte insbesondere für diejenigen attraktiv und hilfreich sein, die an ihren Schulen nicht gerade auf eines der seltenen Kollegien treffen, in denen schon Personen mit entsprechenden Erfahrungen und Ambitionen vertreten sind. Über dieses ganz konkrete Vorhaben hinausgehend haben mich an der "Summer School" aber auch die konzentrierten Austauschmöglichkeiten mit den zahlreichen (oftmals auch bereits bekannten und liebgewonnenen) Kolleginnen und Kollegen gereizt, die sich schon im Laufe der letzten fünf Jahre im Marburger Seminarkontext immer wieder als extrem bereichernd erwiesen haben.

 

Du hast also schon ordentlich Praxiserfahrung gesammelt mit dem Unterrichten von verschiedenen Lehrstücken. Welche Beobachtungen machst du bei deinen Schülerinnen und Schülern? Stellst du Unterschiede fest bei ihrem Lernerfolg gegenüber dem konventionellen Mathematikunterricht?

Ja, die Unterschiede sind meines Erachtens teils ganz durchschlagend. Zwar besteht natürlich immer ein gewisses Risiko, dass man sich liebgewonnene Ideen schönredet, wenn aber beispielweise Sechstklässlerinnen im Anschluss an das "Pascal"-Lehrstück bereits in wesentlichen Zügen das Konzept der bedingten Wahrscheinlichkeit begreifen, das offiziell erst in den gymnasialen Oberstufencurricula auftaucht, dann ist das wohl ein überzeugender Anhaltspunkt dafür, dass die Lehrkunstdidaktik ganz entscheidende Dinge richtig macht. Auch wenn man auf dem Pausenhof mit Schülern ins Gespräch kommt, denen man Monate zuvor die Logarithmen mit Hilfe historischer Rechenhilfsmittel nähergebracht hat, und dabei bei blosser Erwähnung des Wortes "Raster" in völlig mathematikfernem Zusammenhang zu hören bekommt: "Wo sie gerade Raster sagen, muss ich direkt wieder an den Abakus denken!", spürt man, welch nachhaltiges Einwurzelungspotenzial die lehrkunstdidaktische Herangehensweise in sich birgt. Viele ähnliche Anekdoten liessen sich hier noch erzählen, aber für einen Ersteindruck sollte das wohl reichen.

 

Das Optimieren von vorhandenen Lehrstücken bei eigenen Inszenierungen ist ja ein normaler Vorgang, wenn du aber die Optimierungsschritte festhältst für dich und für andere, kommen wir insgesamt in der Lehrkunst voran. Hast du nicht auch Pläne für Eigenentwicklungen, also neue Lehrstücke in der Mathematik oder in der Informatik?

Ja, mehrere sogar, zumal mir die von Dir gerade prinzipiell angesprochenen kollegialen und ganzheitlichen Aspekte besonders wichtig sind. Bereits als ich im Wintersemester 2012/13 das Berg'sche Seminar zum ersten Mal besuchte, habe ich Ideen für ein Mathematiklehrstück zum "goldenen Schnitt" entwickelt, mit dem die im Stück zu den platonischen Körpern angelegten naturphilosophischen Grundfragen der Antike bis hin zu aktuellen Erkenntnissen der Atomphysik bzw. Physikalischen Chemie weitergedacht werden können (Stichwort „Kristallographie“). Bis zum ersten Staatsexamen bei Hans Christoph Berg habe ich dieses Stück dann auch schon relativ konkret skizziert und in Teilen letztes Halbjahr mit den Zehntklässlern bereits probeweise angespielt.

Das Lehrstück zu den platonischen Körpern weitergedacht: Die Kachelstruktur von Roger Penrose

Ebenfalls bereits in der Anfangsphase meiner "Lehrkunstkarriere" habe ich mich gefragt, wie ein erstes Lehrstück zur Informatik aussehenkönnte/sollte, da es dort gegenüber der Mathematik mit ihrem recht opulenten Lehrstückrepertoire bis heute noch nichts gibt. Erste Ideen gingen direkt zum einen in Richtung "Kryptographie" (in Zeiten der Internetkommunikation aktueller denn je und trotzdem schon auf eine Jahrtausende währende Geschichte zurückblickend) und zum anderen in Richtung "Theorie der formalen Sprachen". Interessant für die Leserinnen und Leser dieses Interviews dürfte an dieser Stelle natürlich sein, dass du, lieber Stephan, und ich uns auf der Summer School in Heidelberg ja in deinem eigenen Workshop genau darüber ausgetauscht haben, dass ich bereits vor Jahren die Idee hegte, in letzteres Thema mit Noam Chomsky einzusteigen (siehe dazu auch Newsletter 01/2017), als wir beide uns noch längst nicht persönlich kannten und mir die Existenz Deines Chomsky-Lehrstückes für den (Fremd-)Sprachenunterricht noch unbekannt war. Diese Tatsache empfinde ich als besonders überzeugendes Indiz dafür, dass sich konsequente kooperative und interdisziplinäre Bemühungen innerhalb der Lehrkunstdidaktik als besonders fruchtbar erweisen können und daher generell besonderer Wert auf die Etablierung eines entsprechenden Kooperationsnetzwerks zu legen ist.

 

Aus deiner letzten Antwort kann man schliessen, dass dir die Lehrkunst nicht nur etwas bedeutet, weil sie mit den Lehrstücken eine bessere Didaktik anbietet, sondern weil sie Schule in einem Bildungshorizont denkt. Wie wichtig ist dir dieser?

Du hast richtig geschlossen und hättest für mein Empfinden das "nicht nur" in deiner Formulierung auch getrost durch ein "nicht primär" ersetzen können. Mit anderen Worten erscheint mir persönlich die Erschliessung des besagten Bildungshorizontes als die vornehmste Aufgabe von Schulsystemen, die dieser Bezeichnung gerecht werden wollen. Diese Auffassung hat sicherlich nicht unwesentliche biografische Gründe, denn seit ich denken kann, empfinde ich mich als ein zutiefst bildungshungriges Wesen. Allerdings wähne ich mich damit unter passionierten Lehrkunstvertretern in bester Gesellschaft, denn eine vergleichbare Haltung glaube ich mit Fug und Recht zumindest allen mir bisher bekannten Mitgliedern des Vereins Lehrkunst ebenso unterstellen zu können, wie sie allen Klassikern der Pädagogik von Comenius über Diesterweg bis hin zu dem in der Lehrkunst so zentralen Dreigestirn Wagenschein-Klafki-Hausmann gemein gewesen sein dürfte. Ich bin fest davon überzeugt, dass all jenen Menschen (nicht nur Lehrkräften!), die sich prinzipiell mit derartigen Überlegungen identifizieren können, etwas Wertvolles entgeht, sofern sie das Pech haben, im Verlaufe ihrer Biografie nie oder erst spät mit den "Sternstunden der Menschheit" in Berührung zu kommen, deren Vermittlung sich die Lehrkunst so zentral auf die Fahne geschrieben hat.