uszĂŒge aus âVerstehen ist Menschenrechtâ (1969)
1969 erhielt Martin Wagenschein den Preis der Georg-Michael-Pfaff-Stiftung fĂŒr Initiativen im Bildungswesen. Ich zitiere aus seiner Dankesrede âVerstehen ist Menschenrechtâ.Â
Das folgende Thema hat mich zeitlebens beschÀftigt. Man könnte es so formulieren: die Pflicht zu möglichst allgemein verstÀndlicher Aussage.
In den Schulen trifft man seit einiger Zeit hĂ€ufig auf eine Erwachsenenbildung, die sich bemĂŒht, die Ergebnisse der Wissenschaft zu veranschaulichen; seltener: die Wege der Entdeckung nachzuzeichnen; noch seltener: ihre Wiederentdeckung aus dem Selbergewahrwerden des Problems vollziehen zu lassen.
Die so entstandene Kluft zwischen den Fachleuten und den Laien hat nun in den letzten Jahrzehnten einen noch bedenklicheren Charakter angenommen. Sie wurde nicht nur gröĂer, sie hat sich auch noch mit Nebel erfĂŒllt. Denn âhinterâ der Welt, in der wir leben, wurde, aus zwingenden GrĂŒnden, immer mehr eine zweite aufgetan, die Hinterwelt der abstrakten mathematischen Strukturen, Modelle, Symbole; und das ist die Welt, aus der wir gelenkt werden. Das alles geschah unerwartet, aber mit geschichtlicher Notwendigkeit.
Nichts erscheint dringender, als diese Notwendigkeit auch in den Lernprozessen spĂŒrbar zu machen, das heiĂt, genetisch und induktiv zu arbeiten. â AnsĂ€tze sind da. Aber bald verrĂ€t sich wieder jene ungeduldige Neigung, es sich bequem zu machen und eher die fertigen Abstrakta in den Sprachgebrauch der SchĂŒler hineinzustecken, als die Abstraktion in ihren Geistern aufkommen zu lassen, was allein man als âwirklich verstehenâ bezeichnen kann.
Wir mĂŒssen uns also darĂŒber klar sein, dass wir im 20. Jahrhundert nicht nur höhere Stufen der Abstraktion fĂŒr alle erreichen mĂŒssen, sondern damit auch höhere AnsprĂŒche an KontinuitĂ€t zu stellen haben, an Ungebrochenheit der ĂbergĂ€nge aus der primĂ€ren in die zweite Wirklichkeit. Ohne Sicherung dieser KontinuitĂ€t wird zu wenig verstanden und deshalb auf die Dauer fast nichts behalten. Beachten wir das nicht, so bin ich nicht sicher, ob wir nicht den Raum zwischen der alltĂ€glichen und der abstrakten Wirklichkeit nur mit bodenlosen Scheinkenntnissen fĂŒllen.
Der Zugang zur abstrakten Welt ist nicht mehr als EinbahnstraĂe anzulegen, als ginge es nur âdurch Nacht zum Lichtâ; keineswegs: Die Bahn muss jederzeit in beiden Richtungen gangbar bleiben, wenn sie sich nicht verdunkeln soll.
Denn der Mensch sollte nicht gespalten werden, wo er ganz bleiben kann. â Diese Ungespaltenheit heiĂt Verstehen, und sie fĂŒhrt zur WissenschaftsverstĂ€ndigkeit.
Das haltbare Wissen kommt aus dem radikalen Verstehen von unten her und von oben her wieder hinunter. Und nicht zuletzt: Nur von unten her lernt man: Fragen sehen und produktiv mit ihnen fertig werden; lernt Gefasstsein auf das Unerwartete, lernt EinfÀlle haben, gewinnt Ermutigung, lernt mit Freude: Gibt es heute Dringenderes?
âWissen ist Machtâ â das reicht nicht mehr: Heute, glaube ich, muss die Formel anders lauten: Verstehen ist Menschenrecht.
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Das also heiĂt fĂŒr Wagenschein âVerstehenâ. Nicht nur die Ergebnisse einer Wissenschaft lehren, sondern insbesondere die Wege, die zu diesen Ergebnissen gefĂŒhrt haben, nachzeichnen, nachvollziehen, nachentdecken. Die Verbindungen zwischen der primĂ€ren Welt, in der wir leben, und der âHinterwelt der abstrakten mathematischen Strukturen, Modelle, Symbole, aus der wir gelenkt werdenâ, wie er es nennt.Â
In der Schule werden noch immer sehr hĂ€ufig nur Ergebnisse gelehrt, fĂŒr mehr ist meistens keine Zeit. Ich möchte den Fokus auf das Beweisen im Mathematikunterricht lenken. Wichtige SĂ€tze bleiben hier nicht ohne Beweis. Das beginnt schon frĂŒh, etwa bei der Winkelsumme im Dreieck, natĂŒrlich bei der Satzgruppe des Pythagoras, auch Sinus- und Cosinussatz bleiben nicht ohne Beweis, verschiedene ZusammenhĂ€nge in der Vektorgeometrie kann man sehr raffiniert beweisen, vielleicht kommt man in der Oberstufe sogar zur vollstĂ€ndigen Induktion. Doch: Wann wird einmal ausfĂŒhrlich und mit Zeit thematisiert, was ein Beweis ĂŒberhaupt ist? Was es heiĂt es, etwas zu beweisen? Beweisen und Beweise liegen in der sekundĂ€ren, in der Hinterwelt. Diesen Weg aus der primĂ€ren Welt in die sekundĂ€re sollte man selbst gehen, vor und zurĂŒck.Â
Und das ist möglich! Wagenschein schreibt schon 1968: âDaĂ Seltsames aus SelbstverstĂ€ndlichem ohne Rest verstanden werden kann, diese griechische Einsicht ist eine Entdeckung. Sie sollte auch in den Schulen, bevor sie euklidisch benutzt wird, als sokratisch gefĂŒhrte Wieder-Entdeckung auftreten.â Dass Seltsames aus SelbstverstĂ€ndlichem ohne Rest verstanden werden kann â diese Art der BegrĂŒndung nennt man im Allgemeinen Beweisen! Axiomatisch gesprochen: Beweisen bedeutet, Seltsames auf SelbstverstĂ€ndliches zurĂŒckzufĂŒhren. Und diese grundlegende Idee lĂ€sst sich durchaus im Unterricht entdecken.Â
Es gibt PhĂ€nomene, die sich einem aufdrĂ€ngen, die, mit offenen Augen und wachem Geist betrachtet, aus dem Selbergewahrwerden eines Problems eine echte Entdeckung ermöglichen. Ein solches PhĂ€nomen liegt bei der Zirkelrose vor. Sie ist im LehrstĂŒck "Entdeckung der Axiomatik" Ausgangsposition fĂŒr die Entdeckung des Beweisens.Â
Verstehen aber bedeutet, die Verbindungen zwischen der primĂ€ren und der Hinterwelt deutlich zu machen. Mathematische SĂ€tze und Beweise liegen in der Hinterwelt, die Wege zu diesen Erkenntnissen mĂŒssen im Unterricht gegangen werden, in beiden Richtungen. Die Prozesse mĂŒssen deutlich werden, nicht nur die Produkte.
 Ich ende mit einem Wagenschein-Zitat von 1968: âIch möchte hier schlieĂen. Auch der Unterricht könnte es, soweit er allen SchĂŒlern gilt. Denn jeder hat ein Anrecht, erfahren zu haben, was sich hier auftut: ein Gebiet, auf dem es Gewissheit gibt, Genauigkeit und Verstehen, und zwar ein restloses: ein Durchschauen absonderlicher, zuerst unglaubhafter Beziehungen innerhalb einer Figur; durch einen Entdeckungsprozess, der in diesem Seltsamen als âGrundâ nichts als SelbstverstĂ€ndliches enthĂŒllt. (...) Ein solches Durchschauen mit einem MindestmaĂ an fremder Hilfe einmal, zweimal selber mitgemacht, âdurchgemachtâ zu haben, das muĂ man jedem wĂŒnschen.â