agenschein über die Aufmerksamkeit
Wagenschein pflegte seine Schüler genau zu beobachten, weil er an ihrer Haltung ablesen wollte, ob sie etwas verstanden hatten. Eine Praxis, die ich auch in jeder Lektion pflegte, noch bevor ich Wagenschein-Texte zu lesen begann.
Ich möchte vier Stellen aus einem Aufsatz von Martin Wagenschein mit dem Titel „Über die Aufmerksamkeit“ bringen, den er 1956 erstmals publiziert hat (hier zitiert nach Wagenschein, Martin (2002): …“zäh am Staunen“, Pädagogische Texte zum Bestehen der Wissensgesellschaft, Hrsg. Horst Rumpf, Kallmeyer). Danach zeige ich an einem Beispiel, wie ich die didaktischen Einsichten von Wagenschein in einer Szene meines Lehrstück-Unterrichts umzusetzen versuchte.
Die erste Stelle setzt dort ein, wo Wagenschein ein auch ihm immer wieder entgegengehaltenes Argument entkräftet: Seine Vorschläge für einen Unterricht der Musse seien ja schön und recht, aber in der Schule hätten wir halt keine Zeit für sowas: Darauf antwortet er:
„Dass wir „keine Zeit“ haben, uns mit der „Sache“ einzulassen, ist kein Gegen-argument, sondern es wird damit nur der Tatbestand ausgesprochen: Wir nehmen uns nicht die Zeit für das Wichtigste: die Voraussetzung des Lernens. Lehrer und Schüler, die so beschaffen sind, dass sie trotz der straffen Flüchtigkeit des „Vorgehens“ doch immer wieder Boden zu gewinnen suchen, müssen es lernen, ihre Wurzeln immerfort wieder auszuziehen, und gerade dies heisst dann für sie in einer völligen Sinn-Verkehrung „aufmerksam sein“.
Wenn man nun so wie hier argumentiert, also dafür wirbt, nicht gleich munter, forsch und aggressiv die Dinge anzupacken, sondern sie erst in Ruhe anschauen und auch sich von ihnen anschauen zu lassen, so erregt man leicht das Missverständnis, es werde damit „Passivität“ empfohlen. Es rührt daher, dass die Worte „aktiv“ und „passiv“, so wie sie heute im allgemeinen Sprachgebrauch bereitliegen, nicht ausreichen, um das zu kennzeichnen, was gemeint ist.
Wir verstehen unter „aktiv“ meist ein gewolltes, zielbewusstes, zugreifendes, pfeilgerades, bohrendes Gespanntsein, unter „passiv“ eine gleichgültige Bereitschaft zu nichts oder allem, wahllose Nachgiebigkeit; so wie der Kork auf den Wellen tanzt. – Aber es gibt ein Drittes, das mit keinem dieser beiden verwechselt werden darf. (….)“
Nicht angespannt aktiv, aber auch nicht locker passiv ist die richtige Aufmerksamkeits-haltung, sondern ein Drittes. Wagenschein zitiert zur Eingrenzung dieses „Dritten“ ausführlich die französische Philosophin Simone Weil und resümiert dann deren Ausführungen mit der Feststellung, dass im Deutschen ein Begriff dafür fehle:
„Die romanische Klarheit des Stils Simone Weils macht in bewundernswerter Weise deutlich, was gemeint ist: Das, wofür uns das Wort fehlt: jene Haltung, die durch die
Alternative aktiv-passiv nicht erfasst wird. Die Franzosen haben es besser, denn sie kennen neben der „attention“, die ja fast zur schreckhaften Aufmerksamkeit des Sich-Vorsehens werden kann, das aus derselben Wurzel – attendere, spannen – kommende „attente“, was wir mit „Erwartung“ übersetzen. Dieses jenseits von aktiv und passiv liegende Verhalten der Erwartung, des „Harrens“, ist gewiss nicht jenes passive Abwarten, das wir aus dem Wartesaal kennen, wo das, was kommen soll, unseren Wünschen unzugänglich, vorfährt oder nicht. Es ist dem Warten auf eine Erinnerung verwandt, dem Sich-Besinnen. So wie das Erinnern gehemmt wird, wenn man dabei seinen Willen „einsetzen“ möchte, sich anstrengt und bohrt – und wie dagegen das Vergessene von selber sich einstellt, wenn man äusserlich aufgibt, obenhin an anderes denkt, in der Tiefe aber beharrlich bleibt, so geht es auch beim beharrlichen Denken. Unser Wort "Erwarten" ist wohl die beste Übersetzung auch deshalb, weil "Warten" ja auch die Bedeutung von "Pflegen" hat: ein Kind wird "gewartet", das heisst: behütet und versorgt. Und so wartet auch das Kind im Unterricht die Aufgabe (falls es dem Lehrer gelungen ist, sie ihm zu "stellen"). (…)“
Wagenschein schöpft dann noch einen neuen deutschen Begriff für die „attente“, indem er die „Erwartsamkeit“ vorschlägt. Das Wort hat sich aber im Deutschen nicht eingebürgert. Stattdessen nennt er sie im dritten Zitat die „schöpferische Aufmerksamkeit“.
„Diese, die rechte, die schöpferische Aufmerksamkeit gibt es nur aus der Ganzheit des Lernenden heraus und nur vor Ganzheiten des zu Lernenden: vor dem Verstehen eines Satzes, vor dem Lösen eines mathematischen Problems, der Erklärung eines erstaunlichen physikalischen Phänomens. An das Wirken dieser erwartenden Aufmerksamkeit (…) kann nur der Lehrer glauben, der überzeugt ist, dass das volle Verstehen einer Fragestellung auch schon die Antwort – wie „die Arme der Götter“ – herbeiruft, wenn nur das geduldige, beharrliche, inständige und eindringliche Sich-Öffnen gelingt, und nicht die beiden anderen Haltungen einreissen, die eine so fruchtlos wie die andere; die schlaffe Gleichgültigkeit oder der verbohrte Wille.
Die heutige Schulwirklichkeit, in die der Lehrer redlich und ohne Illusionen sich einordnen muss, wenn der den Kindern helfen will, ist nun offenbar der erwartenden Aufmerksamkeit nicht günstig.“
Das ist ja 60 Jahre später, also heute, noch immer so. Wagenschein empfiehlt aber nicht, dann auf diese Aufmerksamkeit zu verzichten, sondern er macht am Schluss seines Aufsatzes Vorschläge, unter welchen Bedingungen die schöpferische Aufmerksamkeit bei den Schülerinnen und Schülern gefördert werden kann, nämlich mit einer Konzentration aller auf die Sache. Ich fasse als vierte Stelle die Hauptpunkte zusammen (S. 34-36):
1. Konzentration auf die Sache, nicht auf die SchülerInnen
2. Keinerlei Hast. Stauen, Anhalten, eine Haltung der beharrlich erwartenden Unablässigkeit fördern und Zeit haben, indem man diese über der Sache vergisst.
3. Jeder Gedanke an Wettbewerb muss sich auflösen. Alle sind gleichberechtigt und dürfen in ihrer Sprache sprechen.
4. Die Haltung der SchülerInnen: Gelöste Geistesbereitschaft, die auch mal ein gemeinsames Schweigen und Nachdenken einschliessen kann.
Diese Aufmerksamkeitshaltung sei die erste Stufe für das sokratische Gespräch, schreibt Wagenschein zum Abschluss seines Aufsatzes. Wie habe ich nun diese in meinem Unterricht umzusetzen versucht? Ich nehme ein Beispiel aus dem Grammatikkurs. Weil ich meist Erwachsene unterrichtete, habe ich die Klasse im Halbkreis versammelt und ihnen diese „Spielregeln“ mit Verweis auf Wagenschein durchgegeben. Sodann setzte ich mich auch in den Halbkreis und exponierte uns allen die Lernsache oder das Phänomen folgendermassen:
Mit konzentrierter Aufmerksamkeit, im gleichberechtigten, offenen und unbegrenzten Gespräch versuchten wir das Rätsel zu klären, wer dieser Mann ist, was das Geschreibsel auf der Tafel bedeutet und welche Frage(n) uns weiterbringen könnten beim Enträtseln dessen, was Sprache ist.